Psychogenese des Täters in einer Welt totaler Verbote
Haftungsausschluss: Dieser Essay ist ein philosophischer und theoretischer Reflexionsversuch über das Konzept des Verbots und die Transformation des Subjekts. Alle Begriffe – einschließlich des „idealen Verbrechens“ – werden im analytischen und metaphorischen Sinne verwendet. Der Text enthält keine Handlungsaufrufe, rechtfertigt oder verharmlost keine Gesetzes- oder Moralübertretungen und romantisiert sie nicht. Sein Ziel ist die Untersuchung der Grenze des Erlaubten im Rahmen intellektueller Auseinandersetzung.
Das Besitzen des „Darfst-nicht": Zur Psychogenese des Verbrechers in einer Welt totalen Verbots
Synopsis
Zentrale These
In einer Welt, in der das „Darfst-nicht" zur ontologischen Kategorie wird, entsteht ein neuer Subjekttypus — der Inframensch: ein Wesen, weder unmoralisch noch amoralisch, sondern außermoralisch, fähig, das „Darfst-nicht" selbst zu besitzen, nicht aus böswilliger Absicht, sondern aus der ontologischen Notwendigkeit der Selbstbehauptung.
Die Architektur des Verbots
Von Kindheit an internalisiert man das fundamentale Verbot — „fass nicht an, was dir nicht gehört." Dies ist keine bloße Moralregel, sondern ein strukturbildendes Element der Subjektivität selbst. Freud nannte es das Über-Ich; Lacan sprach vom Namen-des-Vaters. Doch was wird aus der hypersensiblen Persönlichkeit, für die sich die gesamte Welt in eine Zone des „Darfst-nicht" verwandelt?
„Das Verbot der Aneignung des Fremden mutiert zur totalen Unterdrückung, zur Abwesenheit des Rechts zu begehren selbst. Man begegnet dem Beginn ontologischer Ohnmacht."
Die Metamorphose des Subjekts
Der Essay zeichnet eine Verwandlung in drei Akten nach:
Erster Akt: Die Sakralisierung des Eigentums
Dinge werden nicht praktisch, sondern metaphysisch unzugänglich. Der Reichtum anderer ist nicht einfach „nicht deins" — es ist „nichts für deinesgleichen". Das Kapital transmutiert zur transzendenten Kategorie, wie Gott für den Atheisten: es existiert, bleibt jedoch auf ewig unerreichbar.
Zweiter Akt: Epiphanie durch Beobachtung
Das Subjekt wird Zeuge von Anomalien: junge Frauen in Luxusautos, plötzliche Vermögen, unerklärliche Karrieren. Das Verbot offenbart sich als selektiv — gewisse Menschen besitzen eine „Lizenz zur Ausnahme".
Dritter Akt: Ontologische Umkehrung
„Im Moment der Erkenntnis, dass jedes ‚Darfst-nicht' Fälschung ist, vollzieht sich die entscheidende Wende. Die Dinge hören auf, heilig zu sein. Sie werden möglich."
Geburt des Inframenschen
Der Inframensch ist kein gewöhnlicher Verbrecher. Es ist ein Subjekt, das:
- Das eingebettete „Darfst-nicht" wie einen Virus aus dem Betriebssystem entfernt hat
- Die Moral für andere nicht abschafft, während es sie für sich selbst umschreibt
- Nicht gegen das System operiert, sondern durch dessen blinde Flecken
Die Schlüsselmetapher: Wie Odysseus sich „Niemand" nannte, um der Rache des Zyklopen zu entgehen, wird der Inframensch zum Niemand für den Apparat moralischer Überwachung.
Philosophische Genealogie
Der Essay baut auf einer Traditionslinie von Stirner (der Einzige und seine Verwerfung äußerer Abstraktionen) über Nietzsche (jenseits von Gut und Böse) bis Bataille (Transgression als Grenzüberschreitung) auf. Doch er geht weiter: Wo jene die Möglichkeit beschrieben, legt diese Arbeit den Mechanismus der Transformation frei.
Provokantes Fazit
Die Gesellschaft selbst produziert den Inframenschen, indem sie das „Darfst-nicht" absolut setzt. Gäbe es Ausnahmen, Schlupflöcher, Möglichkeiten — das Subjekt bliebe im System. Doch wenn der Imperativ lautet „niemals, unter keinen Umständen", bleibt nur der ontologische Bruch.
„Das ideale Verbrechen ist ein Verbrechen gegen das ‚Darfst-nicht' selbst — eines, auf das das Verbot keine Sanktionen anwenden kann."
Frage zur Kontemplation: Wenn das Verbot Begehren erzeugt (Lacan) und das absolute Verbot den Inframenschen erzeugt — trägt dann nicht der Versuch totaler Kontrolle den Keim seiner eigenen Zerstörung in sich?
I. Die Initiation des „Darfst-nicht“ und die Entstehung der Eigentumsmoral
Uns wird ja ständig etwas untersagt. Immer. Kategorisch. Unwiderruflich. Absolut. Schon in der frühesten Kindheit hört das Kind nun einmal von Eltern und Erziehenden jenes Wort, das dem Dasein selbst die Freude entzieht. Und wir wissen: Hinter diesem Wort stehen nicht nur die Eltern – es ist vielmehr der gesellschaftliche Bann gegen die Aneignung des Fremden. Die Gesellschaft fürchtet freilich das permanente Misstrauen, das Besitzverhältnisse begleiten würde, und erklärt den Diebstahl zum Feind jeder Entwicklung.
„Das Verbot ‚Nimm nicht, was dir nicht gehört‘ ist kein moralisches Axiom, sondern eine Überlebensmaßnahme“, so Thomas Hobbes.
„Eigentum ist eine künstliche, aber notwendige Konvention. Sie zähmt das Chaos, macht die Gesellschaft berechenbar und ermöglicht Handel, Vereinbarung und Vertrauen“, ergänzt Hume treffend.
Die Erziehungsaufgabe besteht letztlich darin, Selbstkontrolle zu automatisieren: Der Weg führt vom Strafreflex zur inneren Begrenzung, vom Gehorsam aus Angst zum Verständnis der Unzulässigkeit der Aneignung – zur Disziplinierung der Leidenschaft zu besitzen. In diesem Prozess der Internalisierung hört die Norm auf, ein äußeres Gebot zu sein, und wird gleichsam Teil des Gewissens.
Freud nennt diesen Mechanismus bekanntlich das Über-Ich – den inneren Wächter, der aus der Projektion elterlicher Autorität hervorgeht. Er straft ja nicht mit Schlägen, sondern mit Schuld – als Spannung zwischen Ich und Moral. Lacan präzisiert: Durch das Gesetz des Vaters (Nom du Père) erhält das Subjekt nicht nur das Verbot, sondern überhaupt erst die Möglichkeit zu begehren. Wo es kein Verbot gibt, da entsteht eben nicht Freiheit, sondern eine psychotische Leere – mit, wie sich zeigt, zerstörerischem Potenzial.
Freilich kann das Verbot auf unterschiedliche Weise verinnerlicht werden. Wird es brutal oder sinnlos auferlegt, strukturiert es das Begehren nicht – es blockiert es nur. Daraus folgen entweder impulsive Straftaten oder freudianische neurotische Selbstbestrafung. Misslingt aber die Internalisierung, verliert die Persönlichkeit ihre Grenzen: Sie handelt entweder ohne Gewissen oder hat Angst, überhaupt zu begehren.
Eine entscheidende Rolle bei der Entstehung einer Moral des Eigentums spielt die Erziehung. Harte oder chaotische Methoden, so jedenfalls die American Psychiatric Association, erhöhen das Risiko abweichenden Verhaltens. Umgekehrt – wie Kochanska überzeugend zeigt – führt emotionale Wärme und rationale Disziplin zur Entwicklung eines innerlich verpflichteten und irreversiblen Kooperationsverhaltens: Das Kind gehorcht dann nicht aus Angst, sondern aus Bindung.
Besonders wichtig ist dies freilich für Kinder mit „furchtlosem Temperament“ – bei ihnen nämlich entsteht das Gewissen nicht aus Furcht, sondern aus Respekt gegenüber einer bedeutenden Bezugsperson. Das heißt: Selbst die rebellischsten Persönlichkeiten unterwerfen sich letztlich einem einzigen Prinzip – der Unantastbarkeit des Eigentums. Hier nun erhält die Philosophie des Verbots ihre kanonische Grundlage. Das Verbot ist längst nicht mehr bloß ein soziales Tabu. Es verwandelt sich vielmehr in eine eingebaute Struktur des Subjekts – wie Lacan, Kant und Althusser gleichermaßen bestätigen, kann das Verbot durchaus zur konstitutiven Achse der inneren Architektur werden. Es ist letztlich das Resultat einer feinen Arbeit von Familie, Kultur, Moral und Unbewusstem. Gelingt diese Arbeit, entsteht ein autonomer moralischer Akteur. Wenn nicht – ein Straftäter oder ein Gefangener der eigenen Schuld.
II. Die Unmöglichkeit des Begehrens und das Entstehen einer singulären Persönlichkeit
Das Verbot ist gleichsam unantastbar. Es wird schlichtweg nicht hinterfragt, nicht diskutiert, nicht verurteilt. Es wird, man könnte sagen, heilig. Es verwandelt sich in eine soziale Norm, wird zur Lebensform, zum Teil der Kultur, der Märchen, der Filme, der Bücher. Es beschränkt sich keineswegs auf Situationen, in denen ein Kind lernt, mit anderen zu teilen oder nichts ohne Erlaubnis zu nehmen. Es betrifft auch jene Zustände, in denen Besitz grundsätzlich unmöglich ist.
Das Kind sieht etwa Spielzeuge, die sich seine Eltern nun einmal nicht leisten können. Dinge, die prinzipiell unerreichbar sind – selbst höfliches Bitten ändert daran nichts. Das „Darfst-nicht“ wird zum ersten Mal unantastbar. Es dehnt unaufhörlich seine Reichweite aus – es betrifft nicht nur fremdes Eigentum, sondern auch Kommunikation, Begegnungen, zweifelhafte Beziehungen, Experimente mit dem eigenen Körper, Konflikte.
Mit dem Heranwachsen freilich – mit der Transformation zum Jugendlichen – erhält das Verbot nicht bloß eine Form („Du darfst nicht“), sondern eine moralische Legitimation: die Vorbereitung auf das Erwachsenenleben, das voller „Darfst-nicht“ sein wird. Die Umgebung versucht, diese wachsenden Einschränkungen rational zu begründen. Die Wissenschaft unterstützt gewiss diesen Ansatz: Der Jugendliche soll ja lernen, Zurückweisung zu akzeptieren, sie mit Würde zu tragen, seine Aufmerksamkeit auf das ihm Zugängliche umzulenken. Der Respekt vor fremdem Eigentum verwandelt sich in ein weiteres, ebenso zentrales Prinzip sozialen Verhaltens: die Fähigkeit, das „Nein“ eines anderen zu akzeptieren.
Und das funktioniert tatsächlich. Fast immer jedenfalls.
Was aber, wenn wir es mit einem besonderen Typus zu tun haben? Mit einem hypersensiblen, unvorhersehbaren Subjekt, das nicht bereit ist, ein „Nein“ zu hören – für das das „Darfst-nicht" eben kein Stopp, sondern nur eine temporäre Barriere ist? Mit einem Besitzer-Typus gewissermaßen, einem, sagen wir, Mega-Egoisten, der plötzlich erkennt, dass fast sein gesamtes Leben aus einem schier endlosen „Darfst-nicht" besteht?
Anfangs freilich beginnt er, wie viele seiner Altersgenossen, das Begehren selbst zu fürchten. Selbst dort, wo der Wunsch entscheidend wäre – für seine Zukunft, für sein Auftreten. Der freudsche innere Wächter des Verbots und Lacans „Gesetz des Vaters“ wirken in ihm gleichwohl übermäßig. Sie formen eben nicht eine Struktur des Begehrens, sondern vielmehr dessen tiefe Unterdrückung. Das Verbot, sich etwas anzueignen, verwandelt sich in eine totale Verdrängung – in das Fehlen des Rechts zu begehren.
Er begegnet dem Beginn ontologischer Ohnmacht. Er wird gleichsam zum barrotischen Subjekt im Sinne Lacans – einem, dem es an jeder Verankerung im eigenen Begehren mangelt. Dieser Zustand lässt sich durch Angst vor dem eigenen Wunsch beschreiben – wie in der Kastrationstheorie: Das Subjekt fürchtet, die Grenze des Erlaubten zu überschreiten. Sein Wille wird genau an der Schwelle des „Darfst-nicht“ gelähmt.
Sein Begehren wird nicht durch Moral blockiert, sondern durch die ontologische Struktur der Wirklichkeit selbst: Ich darf nicht – also soll ich nicht – also habe ich keinen Zugang – also bin ich niemand.
III. Eigentum als transzendentes Tabu
Mit der zunehmenden Verankerung freilich des „Darfst-nicht“ in der Psyche dieser hypersensiblen Persönlichkeit wird es nicht bloß zu einem Verbot, sondern zu einer transzendentalen Kategorie. Eigentum wird nunmehr nicht nur durch das Gebot „Fass das nicht an“ erkannt, sondern durch ein tief sitzendes Nicht-Glauben an die Möglichkeit des Besitzens. Eigentum verschwindet gleichsam aus dem Raum des Möglichen – es tritt gewissermaßen aus seiner Welt hinaus. Die Reichen freilich haben ihre eigenen Häuser, ihre eigenen Frauen, ihre eigenen Inseln. Sie haben Kapital – aber das hat schlichtweg nichts mit ihm zu tun. Nicht, weil er dorthin nicht gelangen könnte, sondern weil er es ja nicht einmal wagt, sich selbst dort vorzustellen.
Kapital, schreibt Erich Fromm, erscheint als ein unerreichbares Objekt – sein Besitz entzieht sich stets, so wie das „Darfst-nicht“ dem Subjekt verwehrt, die Fülle des Seins zu erfahren. Dinge werden sakral. Träume – angenehm, doch unmöglich. Geld – metaphysisch. In der Logik dieser empfindlichen und unberechenbaren Natur ist das „Darfst-nicht“ kein moralischer Imperativ mehr. Es wird vielmehr zum neuen Gott. Ein Gott ohne Tempel, ohne Anbetung – doch wie eine Matrix durchdringt er lautlos das Leben.
Das Subjekt, von dem wir sprechen, verzichtet auf Besitz. Und selbst auf seine Träume. Es fügt sich. Findet Arbeit, ändert seine Pläne, versucht, sich über legale Wege selbst zu verwirklichen. Es hört auf, diese Welt zu begehren, und wird zum Beobachter. Es sammelt Erfahrungen in der Akzeptanz der sozialen Realität – und mit ihr unzählige Beispiele unerklärlichen Besitzes: junge Frauen in teuren Autos, reiche Erben, erfolgreiche Start-ups, kometenhafte Karrieren, Millionenvermögen in den Händen beinahe unsichtbarer „grauer“ Gestalten. Es beobachtet sie. Und glaubt dennoch weiter an seinen Platz im Leben.
Doch dann kommt der Moment, in dem es beginnt, Fragen zu stellen: Warum darf er – und ich nicht? Warum besitzt einer – und ich nicht? Es schaut nach innen, analysiert Dutzende Fälle anomalen Zugangs zu materiellen Ressourcen – und erkennt: Das Verbot ist nicht universell. John Locke schrieb: „Eigentum ist die Verlängerung der Arbeit, und Arbeit ist Teil der Person.“ Das Subjekt freilich, das wir beschreiben, verneint Arbeit keineswegs – aber es weiß doch: In dieser Welt nämlich garantiert Arbeit nichts. Besitz ist zur Funktion von Zugang geworden, nicht von Anstrengung. Und so nimmt es – nicht etwa als Dieb, sondern als jemand, der nicht länger um das Recht bittet, eine Person nach fremdem Maß zu sein. Manche haben ja eine Lizenz zur Ausnahme. Manche haben Zugang. Und ihm – wie den meisten – bleibt nur der innere Wächter. Stirner forderte das Recht des Einzelnen, sich über die moralischen Normen der Gesellschaft zu stellen. Nietzsche verkündete das Ideal desjenigen, der eigene Werte schafft – „jenseits von Gut und Böse“. Und Giorgio Agamben untersuchte die Zone der Ausnahme – einen rechtsfreien Raum, in dem moralische Regulatoren nicht mehr greifen. Der Übergang des Subjekts in diesen extramoralen Zustand ist ein Schritt zur Souveränität – zur Selbstbestimmung außerhalb gesellschaftlicher Ordnung. In diesem Moment wird Metamorphose möglich: Es stirbt als Träger des eingebauten „Darfst-nicht“ – und wird wiedergeboren als ein Wesen, das zu besitzen vermag – ohne Erlaubnis. Das eben ist der Inframensch: ein Subjekt, das nicht unmoralisch, sondern extramoralisch ist.
Der Inframensch ist vor allem jemand, der sich weigert, weiterhin „Mensch“ im humanistischen Sinne zu sein: Er empfindet keinerlei Scham, akzeptiert keine äußere Moral, handelt nach seinem eigenen Code. Es ist eine veränderte Persönlichkeitsstruktur – eine philosophische Konstruktion, die auf eine tiefere Ebene der Moral herabgesenkt wurde. Er lehnt die Moral nicht für andere ab – und hält sich im Alltag vielleicht sogar an sie – aber er schreibt sie um, um Raum freizuräumen, in dem sein entscheidender Schlag erfolgen wird. Seine Gestalt wird in späteren Essays näher beschrieben.
Extramoralität ist nicht Amoralität – nicht das bloße Gegenteil von Gut. Sie ist der Austritt aus der Dichotomie von Gut und Böse. Sie ist – wie bei Max Stirner – die Position des Einzelnen, der äußere moralische Abstraktionen zurückweist und aus seiner Einzigkeit heraus handelt. Auch Georges Bataille beschrieb das Verbrechen nicht als Akt des Bösen, sondern als Transgression – als Schritt über die Grenze des Verbots hinaus.
Das Subjekt, das wir hier beschreiben, erkennt das System von „erlaubt“ und „verboten“ nicht als Fundament der Wirklichkeit an. Es entscheidet selbst, was erlaubt ist.
IV. Besitzen ohne Erlaubnis: die finale Wende
In einer Welt, in der das Verbot absolut ist, gibt es schlichtweg keine Auswege. Keine Ausnahmen. Keine Schlupflöcher. Schon der bloße Gedanke an ein Schlupfloch gilt als unmoralisch, seine Weitergabe als illegal. Dies ist gleichsam der Moment ontologischer Totalität des Verbots. Alles, was ihm bleibt, ist: sich ergeben – wie die Mehrheit – oder seine Natur neu bestimmen.
Er ist nicht jemand, der das Eigentum anderer begehrt. Er ist jemand, der sich weigert, zu jenen zu gehören, denen man sagt: „Du darfst nicht.“ Er muss ein Anderer werden – aus Verzweiflung. Denn sonst wird er ausgelöscht. Daraus entsteht seine neue Ontologie: Er wird wiedergeboren als ein Wesen, das weiß, dass es alles darf. Er fürchtet sich nicht mehr.
In dem Moment, in dem er erkennt, dass alle „Du darfst nicht“ nur Fiktionen sind, erfolgt ein entscheidender Umschwung in seinem Denken. Dinge sind für ihn nicht mehr sakral – sie sind möglich. Mehr noch: Sie sind bestimmt für den, der es wagt. Die kantische Ethik lehrt: Um frei zu sein, muss man die Autonomie des anderen achten – und damit sein Eigentum. Aber er lehnt Kant nicht ab – er setzt ihn in Klammern. Er schafft sich eine eigene Ethik: keine des allgemeinen Gesetzes, sondern des individuellen Gesetzes. Er handelt so, als könne seine Handlung Gesetz sein – aber nur für ihn selbst. Er zerstört nicht die Autonomie des anderen – er lässt sie lediglich nicht mehr über sein eigenes Sein bestimmen.
Was geschieht, wenn er lernt, seine Angst vor dem Besitzen des „Darfst-nicht“ zu überwinden? Wenn er gelernt hat, Millionen kleiner Verbote zu durchbrechen – wird er das große begehren. Er richtet seinen Blick auf das, was anderen gehört: Körper, Geld, Leben. Warum sind sie für ihn weniger erreichbar als ein Studienplatz oder ein Auto? Warum kann er dort die Angst überwinden – aber nicht hier? Die Antwort: Alles ist möglich, wenn man den Schlüssel zum Besitz findet.
Die Welt gibt niemals Antwort auf die Frage: Wie kann man besitzen, wenn man nicht darf? Aus gewöhnlicher kindlicher Angst entsteht eine ontologische Unfähigkeit zum Besitz. Das erwachsene Kind braucht den Staat nicht mehr – das Verbot ist jetzt in ihm selbst eingebrannt. Du willst keinen Bentley, weil du das Auto willst – sondern weil du dir nicht erlaubst, zu begehren. Du sagst dir: „Es gibt Dinge, die ich nicht nehmen kann – nicht weil sie unerreichbar sind, sondern weil ich vergessen habe, dass ich begehren darf.“ Du begehst das Undenkbare in dem Moment, in dem du aufhörst, das Begehren zu fürchten, und dir selbst sagst: „Ich besitze das Darfst-nicht.“ Hier erst beginnt die eigentliche Metaphysik. Denn jedes „Darfst-nicht“ ist letztlich nichts anderes als eine Projektion von Schwäche in die Struktur der Welt. Die Erkenntnis freilich, dass man darf, führt sodann zu einer radikalen Verschiebung der Wahrnehmung.
In V for Vendetta etwa verlässt Evey ihre Zelle, als sie erkennt, dass die Wärter nur eine Illusion sind – der Weg ist ja frei gewesen.
In Einer flog über das Kuckucksnest hätten die Patienten die Klinik jederzeit verlassen können – sie wussten es bloß nicht.
Jetzt heißt es eben nicht mehr „darf nicht“, sondern vielmehr: darf – ja sogar: muss. Und wenn das Eigentum seine Heiligkeit verliert, entsteht der Bruch: „Ich werde nicht nur nehmen – ich werde alles nehmen, was ich will.“ Freilich kann nur ein anderes Selbst derart handeln – eines, das die Koordinaten des Erlaubten nicht mehr anerkennt. Es handelt dabei nach dem Prinzip: Was dem Jupiter erlaubt ist, ist dem Ochsen verboten.
Das erinnert gewissermaßen an den Weg von Tom Riddle, der das ultimative Verbot – den Tod selbst – überwinden wollte, indem er seine Seele in Splitter zerschlug. Sein Verbrechen war gleichsam als ideal konzipiert: Mit jedem Mord verbarg er einen Teil von sich in einem Horkrux, um unverwundbar zu werden. Er eignete sich nicht an aus Mangel, sondern um seine Einzigartigkeit zu bekräftigen: Seine Taten waren eine Herausforderung an das Verbot von Macht und Unsterblichkeit – und machen ihn zu einem möglichen Prototyp des Inframenschen.
Wäre das „Dürfen“ selektiv oder gelegentlich erlaubt gewesen – hätte er sich nicht verwandelt. Doch das Gesetz ist streng und einheitlich: Eigentum darf niemals genommen werden – unter keinen Umständen. So spricht Gott in den Zehn Geboten, so spricht das Gesetz jeder Nation. Er hat schlichtweg keinen Ausweg.
Er lernt nicht nur, das zu nehmen, was ihm erlaubt ist – etwa wenn er sich bei seiner Traumuniversität bewirbt und aufgenommen wird. Er verliert jede moralische Schranke – und nimmt alles, was er begehrt. Selbst das, was verboten ist.
Denn wie es heißt: „Wenn etwas verboten ist, man es aber wirklich will – dann ist es erlaubt.“ Die Gesellschaft selbst drängt ihn letztlich zur Verwandlung: vom „Ich kann nicht“ und „Ich darf nicht“ zu: „Ich nehme, was ich will – von wem ich will – wann ich will.“ Das ist letztlich die Logik des idealen Verbrechens: Nicht nur das Unmögliche zu begehren, sondern zu wissen, wie man es realisiert. Das ideale Verbrechen ist ein Verbrechen gegen das Verbot selbst – dem kein Verbot mehr eine Sanktion entgegensetzen kann.