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Der Verlierer

Eine existenzielle Anatomie der Niederlage

Haftungsausschluss: Dieses Essay ist eine philosophische Untersuchung von Niederlage, Opferrolle und den existenziellen Strukturen des Subjekts. Alle Begriffe – einschließlich „der Verlierer“, „Opferhaltung“, „Inframensch“ und „existenzieller Zusammenbruch“ – werden ausschließlich in einem begrifflichen und metaphorischen Sinn verwendet. Der Text befürwortet, rechtfertigt oder legitimiert keinerlei Form psychischer Schädigung, Fatalismus oder moralischen Zynismus. Ziel ist es, zu untersuchen, wie Identität, Verantwortung und Wille in Momenten der Krise und des inneren Zerfalls geformt werden. Die hier beschriebenen Rollen und psychologischen Strukturen gehören zu einem spekulativen philosophischen Denkrahmen und sind weder als moralische Urteile noch als Handlungsanweisungen zu verstehen. Dieses Essay bewegt sich vollständig im Bereich der kritischen Theorie, der existenziellen Analyse und der begrifflichen Reflexion.

Ist das Opfer ein Konzept oder eine Tatsache?

Wer ist das „Opfer“? Im alltäglichen Sinne ist es ein Mensch, der unter der Aggression, dem Betrug oder dem Unglück durch andere leidet. Ein Opfer verliert etwas Wertvolles aufgrund fremden Handelns oder eines verhängnisvollen Zufalls. Doch es stellt sich die Frage: Ist der Opferstatus eine objektive Gegebenheit – oder vielmehr eine psychologische Entscheidung des Einzelnen? Paradoxerweise definieren sich Menschen häufig selbst als Opfer, selbst wenn sie dieselbe Situation erlebt haben, aber mit unterschiedlichem innerem Ergebnis.
Die Psychologin und Holocaust-Überlebende Edith Eger bemerkt: „Victimization comes from the outside world, but victimhood comes from the inside“ – das äußere Geschehen kann uns Leiden bringen, aber der Opferzustand entsteht im Inneren. Anders gesagt: Niemand kann uns zum Opfer machen außer wir selbst. Wir werden nicht durch das Ereignis zum Opfer, sondern indem wir uns bewusst entscheiden, an der Rolle des Gekränkten festzuhalten.

Warum nehmen manche Menschen, die mit einem Unglück konfrontiert sind, sich selbst nicht als Opfer wahr, während andere diese Rolle bereitwillig annehmen? Kritiker des Opferbegriffs weisen darauf hin, dass der Opferstatus oft eine unreflektiert übernommene Haltung ist – eine Art psychologischer Schild, mit dem das eigene Scheitern des Willens verdeckt wird. Es ist einfacher, sich als unschuldig Unterdrückter zu sehen, als einzugestehen, dass es vielleicht an Kraft, Mut oder Fähigkeit gefehlt hat. Die These dieses Essays lässt sich wie folgt formulieren:

Ein Opfer ist nicht derjenige, der betrogen oder gebrochen wurde, sondern derjenige, der sich entscheidet, seine Niederlage moralisch zu deuten.

Mit anderen Worten: Der Verlierer wird zum Opfer, wenn er sich sagt: „Ich bin gefallen wegen der Bosheit und Ungerechtigkeit anderer – nicht wegen meiner eigenen Fehler.“ Eine solche Deutung verleiht der Niederlage einen verführerischen Glanz – denn der Leidende steht moralisch über seinem Angreifer.

Schon Friedrich Nietzsche beschrieb dieses Phänomen als Grundlage der Sklavenmoral: die Verherrlichung des Opfers und die Verteufelung des Unterdrückers. Im Wertesystem des Besiegten verwandelt sich seine Ohnmacht in eine „Tugend“, während die Stärke des Siegers zum „Bösen“ wird. Eine solche Moral, so Nietzsches treffende Beobachtung, erlaubt es dem Menschen durch die List eines unerreichbaren Ideals, sich das Recht zu erschleichen, klein, erbärmlich und unwürdig zu sein – denn wenn Tugend in der Schwäche liegt, muss man sich für die eigene Schwäche nicht schämen.

Opfersein ist somit kein objektiver Umstand, sondern eine psychoontologische Position des Subjekts, die es wählt, um die Integrität seines Ichs zu bewahren. Analysieren wir die Struktur des Bewusstseins des Verlierers und sehen wir, wie er zu dieser Haltung gelangt.

Die Theorie der zwei Subjekte

Warum bleiben manche Menschen trotz einer Niederlage innerlich gefestigt und beklagen sich nicht, während andere sofort in die Rolle des gekränkten Opfers verfallen? Stellen wir uns zwei extreme Reaktionsformen des Subjekts vor – nennen wir sie den „Inframenschen“ und den „ethischen Wetterhahn“. Es handelt sich dabei um zwei polare Ontologien des Willens und der Moral.

Der Inframensch ist ein Subjekt, das unterhalb des gewohnten moralischen Niveaus handelt. Er ist hyperrational und vollkommen amoralisch: sein Gewissen ist bewusst „abgeschaltet“, sein Handeln wird vom kühlen Kalkül gelenkt. Der Wille des Inframenschen ist autonom und geschlossen – ein solcher Mensch folgt seinem gewählten Ziel, ohne äußere Zustimmung zu benötigen. Das klassische Bild ist der gewissenlose, aber entschlossene „Verbrecher-Rationalist“, der nach dem Prinzip lebt: „Der Zweck heiligt die Mittel.“ Für ihn existieren keine Kategorien von Gut und Böse – nur Gewinn oder Verlust.

Der ethische Wetterhahn ist das Gegenteil. Seine moralische Haltung ist unzuverlässig – sie dreht sich mit dem Wind des Ausgangs. Ein solches Subjekt neigt dazu, seine Prinzipien der jeweiligen Situation anzupassen. Wenn es gewinnt, hat es genug Anstand, um Werte wie Würde, Ehrlichkeit und Verdienst zu betonen. Wenn es jedoch verliert, ändert sich die Rhetorik schlagartig: es ertönen Klagen über die Niedertracht anderer, Vorwürfe der Ungerechtigkeit, und es schlüpft hastig in die Rolle des Gekränkten – möglicherweise wechselt es dabei sogar seine bisherigen Überzeugungen und seine Identität.

Einfach gesagt: Der ethische Wetterhahn führt Buch über seine Kränkungen und Niederlagen, um sie bei Gelegenheit vorzeigen zu können. Nicht umsonst wurde bemerkt, dass der Träger der Sklavenmoral seine Opferrolle sorgfältig dokumentiert, während der edle Typus (ein Gegenstück zum Inframenschen) Beleidigungen rasch vergisst und sich nicht an ihnen festhält.

Vergleichen wir die zentralen Merkmale dieser beiden Typen von Wille und Bewusstsein:

Kriterium

Inframensch (amoralisch zielgerichtet)

Ethischer Wetterhahn (selektiv moralisch)

Wille

Geschlossen, autonom. Unabhängig von der Meinung anderer

Abhängig von äußerer Anerkennung und Erfolg. Niederlage schwächt den Willen

Moral

Nicht vorhanden oder abgeschaltet. „Gut/Böse“ werden nicht berücksichtigt

Situativ demonstriert. Bei Sieg – spricht von Tugend; bei Niederlage – klagt über böse Feinde

Reaktion auf Niederlage


Schweigende Akzeptanz oder verdeckte Revanchestrategie. Klagen gelten als unter der Würde

Klage und Schuldzuweisung an äußere Kräfte. Selbstbild als Opfer der Umstände oder fremder Bosheit

Der ethische Wetterhahn besitzt eine Art selbstrechtfertigende Flexibilität: Jede Entwicklung wird zu seinen Gunsten interpretiert. Der Sieg bestätigt seine Richtigkeit und seinen Wert; die Niederlage bestätigt... ebenfalls seine Richtigkeit und seinen Wert, aber nun im Sinne eines „zu Unrecht Gekränkten“. Psychologen bezeichnen dies als eine Form der selbstwertdienlichen Verzerrung: Erfolg wird den eigenen Qualitäten zugeschrieben, Misserfolg äußeren Umständen. Ein solcher Mensch denkt nach der Niederlage: „Ich leide, weil sie schlecht (dumm, böse) sind – und ich bin gut und hätte Besseres verdient.“ Das ist der Keim der Opferpsychologie.

Der Inframensch hingegen benötigt kein moralisches Weltbild. Wenn er verliert, bemüht er sich nicht um ethische Rechtfertigungen. Entweder schweigt er und verwandelt die Niederlage in eine neue Strategie, oder er akzeptiert das Risiko kaltblütig als Preis des Spiels. Für den Inframenschen ist das Verlieren ein rein technischer Fehlgriff – kein Anlass, sein „Ich“ zu hinterfragen. Er fühlt sich weder „schlecht“ durch das Scheitern, noch als „gutes Opfer“. Sein Ego ist nicht an Moral gebunden, sondern an den Willen.

Natürlich sind beide beschriebenen Typen idealisierte Modelle. In der Realität nehmen Menschen Zwischenpositionen ein. Doch das Verständnis dieser Pole hilft, zu erforschen, was im Bewusstsein eines Menschen im Moment der völligen Niederlage geschieht.

Der Moment des existenziellen Zusammenbruchs

Stellen wir uns ein Szenario völliger Niederlage vor: Das Subjekt ist in die Enge getrieben, der Ausgang liegt nicht mehr zu seinen Gunsten. Etwa ein Verbrecher, der umzingelt ist und sich der Polizei ergeben muss; ein korrupter Geschäftsmann, der öffentlich entlarvt wurde; oder ein Mensch, der einer realen Todesgefahr gegenübersteht, ohne Aussicht auf Rettung. Es tritt ein existenzieller Bruch ein – ein Moment, in dem das bisherige Weltbild zusammenfällt.

In diesem Moment erlebt das Bewusstsein des Verlierers einen ontologischen Zusammenbruch. Alles, worauf seine Subjektivität gründete – Kontrolle, Wille, Handlungsfreiheit – ist plötzlich verloren. Er ist nicht mehr Handelnder, sondern Objekt einer fremden Macht – sei es die Macht des Feindes, des Systems oder des blinden Zufalls. Dieser Zustand der Niederlage lähmt die Rationalität: Der Verstand funktioniert scheinbar weiter, sieht jedoch keinen Ausweg mehr, entwirft keine Pläne – er wird vom Schock der eigenen Ohnmacht gefesselt. Es ist der Moment, den die Psyche immer schon am meisten unbewusst gefürchtet hat. „Die Angst enthüllt das Sein in seiner Grundlosigkeit“ – sagt Heidegger.

Es ist wichtig zu verstehen: Wovor fürchtet sich der Mensch im Moment des Zusammenbruchs wirklich? An der Oberfläche scheint es der Tod, der Schmerz, die Bestrafung zu sein. Doch Zeugnisse und psychologische Studien sprechen von einer tiefer liegenden Angst. Existenzielle Psychologen weisen darauf hin, dass eine der grundlegendsten menschlichen Ängste der Verlust des eigenen „Ichs“ ist – die sogenannte Angst vor Egodestruktion oder „Ego-Tod“. Sie äußert sich im Entsetzen über Demütigung, Scham, den Zusammenbruch des Selbstbildes. Wenn alles zerfällt, womit sich ein Mensch identifiziert hat, entsteht panische Furcht: „Mich gibt es nicht mehr als Persönlichkeit.“ Nicht umsonst betonen Psychologen, dass hinter der Angst vor dem Scheitern oft die Angst vor Identitätsverlust steht – denn für viele von uns gilt: „Ich = meine Erfolge, mein Status.“

Der Verlierer spürt im Moment des Zusammenbruchs, dass die Realität sein Selbstbild nicht bestätigt hat. Es ist nicht einfach „ich wurde besiegt“ – es ist das Gefühl: „das, was ich von mir glaubte, ist verschwunden“. Ein Finanzmogul etwa, dessen Vermögen durch eine Krise vernichtet wurde, erlebt nicht so sehr den Verlust des Geldes, sondern den Einsturz seines Selbstwertes: Er ist nicht länger der „erfolgreiche Lebensgewinner“. Eine innere Stimme schreit: „Das ist das Ende von allem, was ich bedeutet habe. Die Welt hat meine Nichtigkeit gesehen.“ Diese Angst gleicht einem Bühnenversagen unter dem Gelächter der Menge – der Angst vor totaler Schande, vor der Auslöschung des Gesichts. Im Sinne des bereits erwähnten egodestruktiven Schreckens ist es die Angst vor der Erniedrigung, die die Integrität der Persönlichkeit zerschlägt.

Der Verlierer verliert den Status des Subjekts – er hört auf, Autor seines Schicksals zu sein, und wird zum Objekt eines fremden Willens oder der Umstände. In extremen Fällen kann dies die Psyche buchstäblich zerbrechen: Es kommt zu Dissoziation, zum Rückzug aus der Realität, weil sie unerträglich geworden ist. Manche erleiden einen psychotischen Zusammenbruch, andere verfallen in einen Stupor oder erleben eine Panikattacke. Die rationale Lähmung ist kein Zufall: Der Verstand, der dem Willen zu dienen gewohnt war, wird plötzlich überflüssig – denn der Wille hat kapituliert. Übrig bleibt nur die rasende, tierhafte Angst vor dem Abgrund: vor der Erkenntnis, dass das „Ich“, das ich einmal war, nicht mehr existiert.

Bemerkenswert ist, dass in solchen Erfahrungen der physische Tod oft nicht im Vordergrund steht. Viel stärker wirkt die Angst vor dem sozialen oder persönlichen Tod. Forscher weisen zum Beispiel darauf hin, dass bei Studierenden die Angst, durch eine Prüfung zu fallen, in Wirklichkeit die Angst ist, die eigene Identität und das Gesicht zu verlieren – sie fürchten, in den Augen der Familie und vor sich selbst als „Versager“ dazustehen. Einer der grundlegendsten menschlichen Ängste, so die Klassifikation von K. Albrecht, ist der Verlust des eigenen Ichs (ego-death), der die Angst vor tiefster Scham und Selbstverurteilung umfasst. Genau diese Angst erwacht im Verlierer: Nicht der Tod des Körpers erschreckt ihn, sondern der Gedanke: „Ich bin nichts mehr.“ Das ist eine extreme Form existenziellen Schreckens – Kierkegaards „Krankheit zum Tode“.

Der Moment der Niederlage ist also oft ein Moment der Wahrheit für das Subjekt. Es steht am Rand des Abgrunds, wo es entweder in den völligen Verlust seiner selbst stürzt oder versucht, sein „Ich“ neu zu konstruieren. Um psychisch nicht zu verschwinden, sucht der Verlierer instinktiv nach einem rettenden Halt für sein Selbstwertgefühl. Und hier tritt eine besondere Ressource auf den Plan – die Opferrolle.

Das Opfer als moralische Konstruktion

Konfrontiert mit dem Zusammenbruch des bisherigen Selbstwertgefühls, sucht die Psyche des Verlierers fieberhaft nach einem Weg, die Integrität der Persönlichkeit zu bewahren. Der einfachste Ausweg: Schuldige im Außen finden und sich selbst davon überzeugen, dass die Niederlage nicht die eigene Schuld ist. So entsteht das Opfernarrativ: „Ich bin weder schlecht noch schwach – die Welt ist grausam und ungerecht zu mir.“ Diese moralische Konstruktion erfüllt für das verletzte Ego mehrere adaptive Funktionen zugleich:

Trost. Die Erklärung über äußere Ungerechtigkeit bietet eine tröstliche Einfachheit: Wenn mich Übeltäter oder ein schrecklicher Zufall gebrochen haben, dann ist in meinem Inneren alles in Ordnung. Die Niederlage hört auf, ein Beweis meiner Unzulänglichkeit zu sein – sie wird im Gegenteil beinahe zu einem Zeichen meiner Unschuld oder gar Rechtschaffenheit. Solcher Selbstbetrug befreit von unerträglicher Selbstverurteilung.

Vereinfachung. Die Welt wird eingeteilt in Gut (ich, das Opfer) und Böse (meine Angreifer). Das verleiht dem Chaos des Geschehenen augenblicklich Sinn: Man muss nicht länger schmerzhaft die eigenen Fehler oder die Komplexität der Umstände analysieren. Die ganze Last des Nachdenkens wird durch eine moralische Dichotomie aufgehoben. Die Welt ist aggressiv, ich habe zu Unrecht gelitten – alles ist klar.

Stabilisierung. Die Opferrolle ermöglicht es, das zerfallende „Ich“ zu stabilisieren. Der Mensch erhält eine neue Identität als Leidender, die die Gesellschaft sogar bereitwillig anerkennt. In der heutigen Gesellschaft lässt sich tatsächlich eine Tendenz beobachten, diejenigen mit einem besonderen Status auszustatten, die gelitten haben. Es entsteht ein sozialer Bonus: das symbolische Kapital des Opfers. Doch genau das ist die Falle – um diese „Währung“ des Mitgefühls zu behalten, muss man im Zustand des Opferseins verbleiben. Bloß nicht aufhören zu leiden.

Psychologisch ist die Opferhaltung ein Weg, der Übernahme von Verantwortung für das eigene Leben auszuweichen. „Der Mensch ist nichts anderes als das, was er aus sich macht“, sagt Sartre. Wenn man glaubt, dass alles Übel von außen kommt und man keinerlei Einfluss hatte, dann muss man auch nicht handeln – es genügt, zu leiden und auf Mitgefühl zu warten. Akos Balogh bezeichnet die Opfermentalität als eine Art Droge: Sie lindert den Schmerz für eine Weile, raubt einem aber am Ende die Lebenskraft. Der Mensch erfährt kurzfristigen Trost, entgeht der schmerzhaften Selbstreflexion – bezahlt dafür jedoch mit einer Stagnation seiner Persönlichkeit. Denn wer sich an der Rolle des Geschädigten festklammert, verweigert sich dem Handeln und dem inneren Wachstum.

Im Grunde erfüllt die Opfermoral dieselbe Funktion wie ein Opiat für den Leidenden. Karl Marx nannte einst die Religion „das Opium des Volkes“ – ein Mittel zur Tröstung der Unterdrückten. Hier jedoch spendet eine spezifische moralische Erzählung Trost: „tugendhaft leiden, statt sich aktiv zu verändern“. Nietzsche erkannte in der Erhebung des demütigen Opfers angesichts eines unerreichbaren Ideals genau diese Funktion – dem Menschen zu ermöglichen, sich mit seiner Kleinheit zu versöhnen. Er bemerkte bissig, dass der Mensch dank der Illusion absoluter Ideale lernt, auf seine Schwäche stolz zu sein und in ihr eine Tugend zu suchen, anstatt die Wahrheit zu erkennen und sie zu überwinden.

Die Opferrolle ist also eine moralische Konstruktion zur Wahrung des Gesichts des Verlierers. Sie schützt ihn vor dem Zerfall seiner Persönlichkeit – allerdings zum Preis einer Verzerrung der Wirklichkeit. Der Verlierer, der sich zum Opfer macht, verändert seine Perspektive: Nicht mehr er selbst trägt Verantwortung für sein Schicksal, sondern allein das böse Schicksal oder finstere Mächte. Kurzfristig erleichtert das die unerträgliche Last der Niederlage. Langfristig jedoch beraubt es den Menschen der Möglichkeit zur Verwandlung und zur Erkenntnis. Statt Reifung folgt ein Rückfall in den Zustand eines hilflosen Kindes, das nach Mitleid verlangt.

Die Psychoökonomie der Angst

Es ist aufschlussreich, Analogien der Opferhaltung nicht nur auf der Ebene einzelner Menschen zu verfolgen, sondern auch im Maßstab ganzer Systeme – etwa des Kapitals und der Ökonomie. Man kann von einer besonderen „existenziellen Ökonomie“ sprechen, in der eigene Ängste und Niederlagen wirksam sind. Auf den ersten Blick scheint Kapital ein unpersönlicher Rohstoff, ein neutraler Vermögenswert zu sein. Doch in Krisenzeiten verhält es sich fast wie ein lebendiges Wesen, das fähig ist, Angst zu empfinden. Wovor also fürchtet sich das Kapital?

Erstens: der Verlust von Wert. Das ist das Äquivalent zur Todesangst für ein Lebewesen – die Entwertung ist für das Kapital gleichbedeutend mit seiner Vernichtung. Nicht umsonst wurde schon im 19. Jahrhundert festgestellt: „Das Kapital fürchtet die Abwesenheit von Profit oder zu geringe Gewinne, wie die Natur das Vakuum fürchtet.“ Es ist „von Natur aus furchtsam“ und versucht, Verluste um jeden Preis zu vermeiden. Wenn Verluste drohen, geraten die Märkte in Panik – wie ein einziger Organismus in einem Anfall von Angst.

Zweitens: Das Kapital fürchtet den Gesichtsverlust – also den Verlust von Vertrauen und Reputation. In der Ökonomie äußert sich dies als Vertrauenskrise: Investoren erkennen plötzlich die Fragilität finanzieller Konstruktionen – und der Zusammenbruch beginnt. Ein Unternehmen, das seinen guten Ruf verliert (etwa durch einen Skandal), erleidet faktisch eine existenzielle Niederlage: Seine Aktien brechen ein wie das Selbstwertgefühl eines entlarvten Betrügers.

Drittens: Das Kapital fürchtet den Kontrollverlust. Unternehmer haben oft panische Angst, die Kontrolle über ihre Anteile zu verlieren, selbst wenn die Einbindung von Partnern der Entwicklung zugutekäme. Geld vermittelt die Illusion von Macht über die Welt – und die Kontrolle darüber zu verlieren, bedeutet, einen Teil dieser Macht einzubüßen. Reiche Menschen sind oft von zwei Phobien besessen: dass ihnen das Geld weggenommen wird (durch äußere Feinde, den Staat) und dass sie es durch eigene Fehler verlieren könnten. Der Besitz großen Kapitals erzeugt eine ständige Angst, alles zu verlieren.

Was geschieht, wenn das Kapital mit der Existenz konfrontiert wird – mit einer Realität, die es nicht beherrschen kann? Ein Beispiel dafür ist ein plötzlicher Finanzkollaps oder eine globale Krise (wie 2008 oder die Große Depression). In solchen Momenten erkennt das Kapital seine eigene Ohnmacht: Keine finanziellen Instrumente können das System vor dem Zusammenbruch retten, das Vertrauen verdampft, und die Macht des Geldes wird vorübergehend aufgehoben. Man könnte sagen, das Kapital begegnet der Leere – wie ein Narzisst, der in den Spiegel blickt und kein Spiegelbild sieht. Es entsteht eine Art Identitätspanik im Maßstab des gesamten Systems.

Mehr noch – in solchen Momenten kann die erschreckende Erkenntnis auftauchen: Das Kapital selbst war die Ursache der Katastrophe. Der Klimawandel ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie die Jagd nach Profit in eine globale Bedrohung für das menschliche Dasein umschlägt.

Das kapitalistische System, besessen vom Wachstum, beschleunigt sich selbst bis zur Selbstzerstörung und ruft dabei klimatische Katastrophen hervor. Und plötzlich erkennt das Kapital – verkörpert durch die größten Konzerne und Staaten –, dass die angehäuften Reichtümer nicht vor dem heraufziehenden Untergang retten, sondern ihn vielmehr beschleunigt haben. Man könnte das eine existenzielle Ohrfeige für das Kapital nennen. So wie der Held einer Tragödie die Verderblichkeit seiner eigenen Laster erkennt, beginnt das System, die tödliche Natur seiner Gier zu begreifen.

Auch im wirtschaftlichen Bereich ist die Rolle des „Opfers“ nicht fremd. In Krisenzeiten ist es leicht, entsprechende Rhetorik zu finden: Einige Länder oder Gruppen stellen sich als Geschädigte fremder Machenschaften dar, während andere als Schuldige oder Bösewichte angeklagt werden. Man erinnere sich daran, wie Politiker nach globalen Krisen nach „externen Schuldigen“ suchten – anstatt systemische Probleme anzuerkennen. Um das Gesicht zu wahren, konstruiert das Kapital nicht selten ein moralisches Narrativ: Der Zusammenbruch sei das Ergebnis von Bosheit oder Inkompetenz anderer (Regulierungsbehörden, Wettbewerber, „verfluchter Spekulanten“ usw.). Es entsteht eine kollektive Opferpsychologie auf Ebene der Märkte.

Der infrapersönliche Ansatz in der Ökonomie hingegen bedeutet die kaltblütige Annahme von Risiko und Verantwortung. Große Raubtiere des Geschäftslebens ziehen es vor, nicht zu klagen, sondern stillschweigend Fehler zu analysieren und neue Strategien zu entwerfen – oder neue Schlupflöcher zu suchen. Wie der Inframensch kann auch das Kapital in der Niederlage entweder in panischer Opferhaltung verharren oder sich zynisch an die neuen Bedingungen anpassen. Die Geschichte kennt Beispiele für beides.

Die Kollision der Inframenschen

Betrachten wir einen Sonderfall: das Aufeinandertreffen zweier amoralischer, willensstarker Subjekte – den Zusammenstoß zweier Inframenschen. Was geschieht, wenn beide Beteiligten frei von gewohnter Moral sind und keine Neigung zur Opferrolle zeigen? Kann man sich eine Niederlage zwischen ihnen vorstellen – ohne Klage und ohne Rechtfertigung?

In Literatur und Geschichte finden sich aufschlussreiche Andeutungen. Der Marquis de Sade, der das Wesen des Lasters erforschte, beschrieb eine Gesellschaft absoluter Verbrecher-Egoisten. In einem solchen Milieu gilt das Prinzip: „Ein Wolf beißt keinen Wolf ... solange er ein Wolf bleibt.“ Mit anderen Worten: Zwei Raubtiere, die im jeweils anderen ihresgleichen erkennen, geraten womöglich gar nicht erst in direkte Konfrontation – jeder versteht die Gefahr. Es existiert so etwas wie ein „Kodex der Schurken“: Solange beide kaltblütig sind und niemandem vertrauen, ist ein Gleichgewicht zwischen ihnen möglich. Sie erkennen im anderen einen gleichwertigen Willen. Doch sobald einer Schwäche zeigt – etwa Bindung, Mitleid oder gar beginnt, die Opferrolle zu spielen –, nutzt der andere dies sofort aus und vernichtet seinen Gegner. In einem Buch oder Film würde man sagen: „Die Bösewichte verbünden sich vorübergehend, aber Freundschaft gibt es zwischen ihnen nicht.“

Ein Beispiel findet sich auch in der Popkultur. Im bekannten Anime „Death Note“ liefern sich der geniale Detektiv L und der Mörder Kira ein tödliches, intellektuelles Duell. Beide sind kaltblütig, beide bereit, die Grenze zu überschreiten. Keiner von ihnen betrachtet sich als „Opfer“ – im Gegenteil, jeder sieht im anderen einen würdigen, starken Gegner. Das erinnert an ein nietzscheanisches Motiv: Der edle Geist liebt beinahe seinen Feind, insofern in ihm etwas Ehrfurchtgebietendes liegt. Hier beobachten wir eine Situation ohne Klage über Ungerechtigkeit – der Kampf wird an der Grenze des Möglichen geführt, doch ohne moralisches Stöhnen. Doch sobald einer der beiden in eine eindeutig aussichtslose Position gerät, bricht das Gleichgewicht zusammen: Der Sieger wird kein Erbarmen zeigen, und der Besiegte hat vielleicht nicht einmal mehr Zeit, sich zu beklagen.

Auch in der realen Welt der kriminellen Kultur ist ein ähnliches Phänomen bekannt: die sogenannten „Begriffe“ unter Verbrechern. Solange ein Feld gegenseitigen Nutzens oder gegenseitiger Furcht besteht, halten sie sich an einen Kodex – die „Ehrlichkeit unter Dieben“. Doch dieses Gleichgewicht ruht auf einem schmalen Grat – sobald einer strauchelt oder Schwäche zeigt, rettet ihn keine Solidarität mehr.

Das Entscheidende – niemand spielt die gekränkte Unschuld, das ist ein ungeschriebenes Tabu. In der Welt des Verbrechens zu klagen bedeutet, sich zur Schwäche zu bekennen und die Raubtiere zum Fest einzuladen. Deshalb klagt der Inframensch nicht einmal im Moment der Niederlage: Er rächt sich schweigend – oder stirbt schweigend. Die Klage ist das Vorrecht relativ moralischer Menschen, jener „ethischen Wetterhähne“, die tief im Inneren doch an Gut und Böse glauben. Der absolute Amoralist besitzt schlicht keine Sprache der Klage – er kann sich auf nichts berufen außer auf Kraft.

Daraus folgt: Die Opferrolle ist mit dem Inframenschen unvereinbar. Nur wer in seinem Inneren noch einen Funken moralischen Relativismus trägt – also die Fähigkeit, sich selbst zu rechtfertigen –, kann in den Modus „Ich leide, die Welt ist böse“ umschalten. Das vollständig amoralische Subjekt hingegen kämpft entweder bis zum Ende oder akzeptiert die Niederlage als Tatsache – aber nicht als Anlass zur Klage. Für ihn existiert keine eigentliche Niederlage – nur vorübergehend ungünstige Konstellationen. Darin liegt übrigens seine Stärke: Er verschwendet keine Energie auf Selbstmitleid.

Wenn also zwei prinzipienlose Gegner aufeinandertreffen, kann eine Niederlage ganz ohne die uns vertraute Dramatik der Opferrolle geschehen. Sie vollzieht sich nach den Gesetzen der Natur – der Stärkere siegt, der Schwächere geht unter – und niemand beklagt die Ungerechtigkeit. Doch ein solcher „trockener“ Ausgang ist selten, denn die meisten Menschen bewahren in ihrer Seele doch irgendeinen moralischen Haken, an dem sich der Schmerz festkrallen kann.

Transformation durch Niederlage

Wir haben die Extreme betrachtet – kehren wir nun zurück zum gewöhnlichen Menschen, der eine schwere Niederlage erlitten hat. Welche Szenarien innerer Transformation sind nach einem solchen Ereignis möglich? Im Essay „Existentielle Ökonomie“ habe ich drei Ausgänge beschrieben. Lassen Sie uns diese nun weiter entfalten:

1. Psychotischer Zusammenbruch (Kapitulation der Persönlichkeit). Eine Niederlage kann den Menschen so tief treffen, dass er nicht mehr in der Lage ist, die Erfahrung zu integrieren. Es kommt entweder zu einem psychischen Zusammenbruch – bis hin zu Psychose, schwerer Depression oder Suizid – oder der Mensch verharrt dauerhaft in der Rolle des hilflosen Opfers. Faktisch bedeutet das einen vollständigen Verlust der Subjektivität. Solche Beispiele sind leider weit verbreitet: Manche Menschen scheiden nach dem Verlust eines nahestehenden Menschen oder dem Zusammenbruch ihrer Karriere für Jahre aus dem Leben aus, unfähig, sich davon zu erholen. Psychologen stellen fest, dass ein bestimmter Prozentsatz der Betroffenen nach einem schweren Verlust einen tiefgreifenden Umbruch erlebt und nicht mehr zu früherer Funktionsfähigkeit zurückkehrt. Ihre Entwicklung kommt zum Stillstand oder verläuft rückläufig. Ein solches Szenario kann als wahre Niederlage der Persönlichkeit bezeichnet werden – wenn ein äußeres Ereignis den inneren Halt unwiderruflich zerstört hat.

2. Anerkennung und Wachstum (Niederlage als Lektion). Der zweite Weg besteht darin, den Zusammenbruch zu durchschreiten und aus ihm eine Lehre für neue Reife zu ziehen. Das erfordert den Mut, sich selbst ohne Selbsttäuschung ehrlich anzuschauen, die eigenen Fehler oder Begrenzungen einzugestehen, sich die eigene Schwäche zu verzeihen und die Realität anzunehmen. Dieser Ansatz steht der Philosophie des Stoizismus nahe. In der modernen Psychologie entspricht dem die Idee des posttraumatischen Wachstums. Studien zeigen, dass erlittenes Leid ein Sprungbrett für Entwicklung sein kann, wenn der Mensch sich bewusst entscheidet, einen Sinn aus dem Trauma zu gewinnen. Der entscheidende Schritt besteht darin, das Verlangen nach einem anderen Schicksal loszulassen („die Hoffnung auf eine bessere Vergangenheit aufgeben“, wie der Psychotherapeut Irvin Yalom sagt) und die Energie in die Zukunft zu richten. Ein solcher Mensch sagt sich: „Ja, ich bin gescheitert. Warum und was will sie mich lehren?“ – und genau dadurch wandelt sich die Blickrichtung: weg vom Selbstmitleid hin zum inneren Wachstum. Die Niederlage wird so zu einem Akt der Reifung. In dieser Transformation hört die Niederlage auf, eine Niederlage zu sein – sie wird zu einer notwendigen Prüfung auf dem Weg zu etwas Größerem. Und dann ist der Mensch kein Opfer mehr, sondern der Held seiner tragischen Erfahrung – jemand, der „nicht verloren, sondern gewonnen oder gelernt hat“.

3. Wiedergeburt als Inframensch (Geburt eines neuen Willens). Das dritte und dramatischste Szenario: Nach Zusammenbruch und Schmerz zieht der Mensch den Schluss, dass die Welt grausam ist, Moral nutzlos – nur die Stärke überlebt. Und anstatt ein Opfer zu bleiben, entscheidet er sich, zum Henker zu werden. Es kommt zur Identifikation mit dem Aggressor, wie Anna Freud es beschrieben hat: Das Opfer übernimmt die Züge seines Peinigers, um sich nie wieder hilflos zu fühlen. Dies ist ein gefährlicher Weg, auf dem das einstige Opfer sich in einen neuen Täter verwandelt. Tatsächlich entsteht eine neue Inframenschlichkeit – doch sie wird vom Schrecken vor der Wiederholung des Schmerzes angetrieben. Das ist der Weg vieler literarischer Bösewichte: Tom Riddle verwandelt sich in den erbarmungslosen Lord Voldemort, Anakin in Darth Vader. Solche Menschen erkennt man auch im wirklichen Leben.

Der Spiegel der Existenz

Die wahre existenzielle Niederlage geschieht nicht dann, wenn man äußerlich besiegt wird, sondern wenn man innerlich beschließt, dass das eigene Fiasko bloße Ungerechtigkeit war – und keine Lektion. Der Verlierer erleidet seine endgültige Niederlage, indem er die Opferrolle wählt und auf Wachstum verzichtet. Das ist Selbsttäuschung: Das Subjekt entreißt sich selbst die Chance zur Verwandlung, tötet seine künftige Möglichkeit, stärker zu werden – und tut all das im Gewand des Trostes.

Die Psychologie des Verlierers in der Opferrolle ist die Psychologie eines Flüchtenden vor sich selbst. Ein solcher Mensch flieht vor der Wahrheit über seine eigenen Fehler und Schwächen, flieht vor der Verantwortung für ein neues Leben. Er versteckt sich im Schatten der Schuld anderer. Doch damit entzieht er sich zugleich der Möglichkeit, dem wahren Selbst zu begegnen – dem, der er hätte werden können, wenn er die Niederlage überwunden hätte.

Das Opfer ist kein objektives Schicksal, sondern eine Rolle, der man entweder entgehen oder sich ihr hingeben kann. Jeder, der eine Niederlage erlebt hat, steht vor einer Wahl: zum Schüler der Erfahrung zu werden oder zum ewigen Ankläger des Schicksals. Der erste Weg ist schwer – er verlangt Mut und Demut vor der Wahrheit. Der zweite ist verlockend, führt jedoch in die Sackgasse der Stagnation. Die wahre Stärke des Menschen zeigt sich in der paradoxen Einsicht: „Ja, ich habe eine Niederlage erlitten, und ich trage einen Teil der Verantwortung – also liegt es an mir, wieder aufzustehen.“ Sobald dieser Satz ausgesprochen wird, hat der existentielle Schlag dem Menschen nicht das Selbst geraubt – sondern ihm im Gegenteil die Augen geöffnet.

Die existentielle Anatomie der Niederlage zeigt uns eines: Die Niederlage besiegt uns nur dann, wenn wir sie Ungerechtigkeit nennen – und nicht Lektion. Alles andere ist überwindbar. Das Opfersein ist demnach keineswegs das Ende, sondern nur eine missverstandene Wegbiegung – eine, die eine starke Seele in einen Anfang neuer Entwicklung verwandeln kann.